Wen das Meer ruft: Ein Usedom-Roman (German Edition) by Henry Kim

Autor:Henry, Kim [Henry, Kim]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: All Age Mystery Romance
veröffentlicht: 2015-02-08T16:00:00+00:00

Kapitel 12

Anke ließ mich an diesem Tag gehen, sobald das Mittagsgeschäft mit Schulkindern und Mittagspäuslern vorbei und das Geschirr gespült war, die Vitrinen aufgefüllt und die Zwischenabrechnung gemacht.

“Es passiert doch nachmittags nicht viel”, sagte sie und schob mich zur Tür. “Du bist völlig durch den Wind, Schätzchen, ab mit dir.”

Die Türglocke bimmelte. Ein Tankstellenblumenstrauß quetschte sich hindurch, und ich verstand. Offenbar wollte Anke ungestört mit ihrem Lover reden. Also gut. Scharf darauf, mit diesem Mann Smalltalk machen zu müssen, war ich ohnehin nicht. Wenn ich wissen wollte, was er und Marius zu besprechen hatten, dann war es fair, wenn es Marius war, der mir Auskunft gab. Rainer traute ich nicht über den Weg, noch weniger als Marius im Moment. Daher grüßte ich mit der gebotenen Knappheit und schlüpfte nach draußen, ehe sich die Tür hinter ihm und seinem Blumenstrauß schloss.

Ich sah an mir hinunter. Der dicke Aran-Pulli war so weit, dass ich in meinem Parka aussah wie eine zu fest gestopfte Bratwurst. Außerdem war da der Fakt, dass ich eine Männerunterhose trug. Die war zwar bequem, aber sie gehörte nicht mir. Hinzu kam, dass ich Abstand vom Besitzer der Unterhose suchte. Die Träger des Rucksacks fest im Griff, marschierte ich los. Ich war auf einer Mission. Als ich eine Dreiviertelstunde später im Bus nach Karlshagen saß, trug ich zwar immer noch geborgte Kleidung - oder sollte ich sagen gestohlen, da ich Marius nicht mal um Erlaubnis gefragt hatte? - aber mein Rucksack quoll beinahe über. Zwei Paar Jeans, zwei dicke Winterpullis und ein Longshirt sowie genug Unterwäsche, um mich mindestens zwei Wochen zwischen Trips zur Waschmaschine über Wasser zu halten. Das bedeutete zwar, dass mein Konto bis zur nächsten Überweisung von Anke leer war, aber das sollte mich nicht stören. Im Laden bekam ich Kaffee und Muffins umsonst, und Heike hatte mich eingeladen, bei ihr zu wohnen, also ging ich nicht davon aus, dass sie mir an jedem Freitag eine Rechnung über Verzehr vorlegen würde. Ich plante zwar, meinen Aufenthalt in der Inselperle nicht auf Schnorrerbasis zu absolvieren, aber ich konnte meine Schulden auch später abzahlen. Unterhosen standen für den Moment deutlich weiter oben auf meiner Prioritätenliste.

Marius' Golf stand auf dem Innenhof der Perle. Der Rollsplitt schnarrte unter meinen Füßen, so sehr beeilte ich mich ins Haus zu kommen. Ich wollte nicht gesehen werden und wollte auch niemanden sehen. Weiter reichten meine Pläne nicht. Da war noch so viel Nachmittag übrig, es war noch taghell. Mit etwas Glück war der gute Doktor am Wasser und bemerkte mich nicht.

Die riesige Haustür klappte zu laut ins Schloss. Im ewigen Dämmerlicht des Treppenhauses schlich ich nach oben. Auf der letzten Stufe rannte ich gegen eine Wand.

“Du bist früh zuhause”, sagte Marius, die Stimme vorsichtig.

“Anke hat mich heimgeschickt. Ich war einkaufen.” Ich zog den Reißverschluss des Parkas herunter, damit er den Pulli sehen konnte. “Ich hätte dich gefragt, ob ich was borgen kann, aber du warst nicht da.” Dafür, dass das anklagend klang, konnte ich wirklich nichts. Jetzt, mit seinem Duft nach Salz und nassem Sand in der Nase, kam mir das Verlassenwerden von heute früh gleich noch viel gemeiner vor.

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